Wie Putin Europa verändert – DW – 03.01.2022

Der Krieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegen die Ukraine

löste eine Reihe unbeabsichtigter Folgen aus: Er vereinigte Europa, beendete die wirtschaftliche und politische Schmeichelei einiger Länder der Europäischen Union (EU), trieb viele seiner alten Freunde in den Untergrund und beendete vorübergehend kleinliche Streitereien.

Die Begeisterung für die neue Einheit mag vorübergehend sein, da der Preis für harte Sanktionen noch zu zahlen ist. Doch Putins Krieg ist für die EU wie ein Lebenselixier, heilige Kühe werden geschlachtet und ein neuer Wind weht durch den Block.

Frankreich: Populisten verlieren an Boden

Der französische Präsident Emmanuel Macron predigt seit seinem Amtsantritt, Europa müsse wirtschaftlich autonomer werden und sich selbst verteidigen können. Seine Kollegen im Block unterstützten ihn nicht. Wie Recht Macron hatte, wird jetzt deutlich.

Allerdings muss er auch Fehler eingestehen: Lange habe der Franzose Putin umworben und geglaubt, ihm gehe es um Zusammenarbeit und Respekt in Europa. Nach dem letzten gescheiterten Verhandlungsversuch mit dem Kreml fühlte sich Macron betrogen.

Seine politischen Gegner hingegen müssen ihrem Idol Putin über Nacht abschwören und wollen nicht an seine früheren peinlichen Tweets erinnert werden. Bis dahin spielte die Putin-freundliche Linie des Altlinken Jean-Luc Melenchon, der Rechtspopulistin Marine Le Pen und seines rechtsextremen Rivalen Eric Zemmour keine Rolle im Wahlkampf.

Jetzt sind Fotos von 2017 neben Putin für Le Pen höchst peinlich geworden. In diesem Jahr erhielt sein Wahlkampf Spenden vom russischen Präsidenten. Ein Video von Zemmour in den sozialen Medien, in dem er Putin als Genie und fast virtuellen Franzosen lobte, ist jetzt ein negativer Erfolg. Und Melenchon gibt zu, dass er sich in Bezug auf den Russen geirrt hat. Alle drei halten sich jetzt zurück und reden über Frieden.

Ungarn: Orban ändert seine Meinung

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban war in den vergangenen Jahren in der EU zum Problem geworden. Zunehmend autoritär, korrupt und überzeugt antidemokratisch, hat der Ungar für Zwietracht gesorgt und gemeinsame Entscheidungen torpediert. Der Abbau der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn hat es auf Kollisionskurs mit Brüssel gebracht. Und ihre totale Ablehnung von Flüchtlingen hat eine gemeinsame Migrationspolitik behindert.

Doch am Wochenende fuhr Orban in die Grenzstadt Beresegsurany, wo Flüchtlinge aus der Ukraine die Grenze überqueren, um sie willkommen zu heißen und ihnen Ungarns Hilfe zu versprechen. Zwar gehören viele, die dort ankommen, der ungarischen Karpaten-Minderheit an, doch Orban musste in dieser Frage einen Rückzieher machen.

Orban ist nun zwischen jahrelanger Nähe zu Putin und europäischer Empörung über den Krieg in der Ukraine hin- und hergerissen. Noch vor wenigen Wochen hatte er den Kreml besucht, wo er die Forderung nach legitimen Sicherheitsgarantien und EU-Sanktionen für kontraproduktiv erklärte. Dann, am vergangenen Samstag, kündigte sein Sprecher an, dass Budapest alle Sanktionen gegen Russland unterstützen werde. Viktor Orban wird nicht so schnell zurückrudern können, wie es die bevorstehenden Wahlen im April erfordern, da die öffentliche Meinung in Ungarn pro-ukrainisch ist.

Neutrales Schweden und Finnland

Seit dem Zweiten Weltkrieg betrachten die Schweden ihre Neutralität als höchstes Gut. Grundsätzlich vermeidet das Land Parteinahmen und profiliert sich als neutraler Verhandlungspartner in der Weltgemeinschaft. Nun hat Premierministerin Magdalene Andersson erklärt, sie werde Helme, Schutzwesten und 5.000 Panzerabwehrwaffen in die Ukraine liefern.

„Wir treffen unsere eigenen sicherheitspolitischen Entscheidungen“, antwortete Andersson auf Putins Drohungen mit dem vermeintlich hohen Preis, den Schweden und Finnland zahlen müssten, wenn sie der Nato beitreten würden.

Auch Finnland reagierte kühl auf Putins Drohungen. Dort wird die aufgezwungene Blockfreiheit und politische Einflussnahme des Kremls nach dem Zweiten Weltkrieg inzwischen kritisch gesehen. Und erstmals befürwortet nun eine Mehrheit von 53 % der Befragten den NATO-Beitritt des Landes. Das Schutzbedürfnis des westlichen Militärbündnisses scheint wichtiger als die alte Tradition der Neutralität.

Und auf die Frage nach einer möglichen „Finnlandisierung“ der Ukraine verneint Ex-Premier Alexander Stubb: „Der Begriff ist traumatisch für uns“, es wäre eine Rückkehr zu den Regeln des Kalten Krieges und keine gute Lösung für die Ukraine. Die „Finnlandisierung“ erinnert an die Zeit in den 1970er Jahren, als Finnland der Sowjetunion Zugeständnisse machte, um eine Politik der guten Nachbarschaft aufrechtzuerhalten.

Deutschland: Ende alter Prinzipien

„Deutschland wird seiner Rolle als Weltmacht gerecht“, schrieb die Nachrichtenagentur Reuters am Montag und fasste damit einen Weltkommentar zusammen, der Aufregung und Erstaunen über die historische Kehrtwende von Bundeskanzler Olaf Scholz am Sonntag zum Ausdruck brachte.

Über Nacht hat er alle jahrzehntealten Überzeugungen aus der deutschen Politik entfernt: Ja zu Waffen für die Ukraine, Ja zu einer einsatzbereiten Bundeswehr, Ja zu erhöhten Verteidigungsausgaben und Nein zu Russlands Energieabhängigkeit, Nein zu denen, die Putin verstehen und sich für seine Autoritarität entschuldigen Regierung.

Die englische Übersetzung der Rede von Scholz wurde unter angelsächsischen Beobachtern wie warme Semmeln auf Twitter geteilt, so groß war das Erstaunen über die Wende in Berlin. Rund 30 Jahre deutsche Russlandpolitik, insbesondere die seiner eigenen Partei, hat der deutsche Regierungschef über den Haufen geworfen. Am nächsten Tag ist die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland nicht wiederzuerkennen.

Reaktionen in anderen Ländern

Der tschechische Präsident Milos Zeman, seit Jahren ein glühender Anhänger von Präsident Putin, nennt seinen ehemaligen Freund nun einen „Irren, der isoliert werden muss“ und der den Frieden in Europa gefährdet.

Der italienische Rechtspopulist Matteo Salvini, der mehr als einmal mit einem Putin-T-Shirt fotografiert wurde, versucht, das frühere Lob für den russischen Präsidenten in den sozialen Medien zu löschen, und hat Blumen an der ukrainischen Botschaft in Rom niedergelegt.

Nach der Krim-Annexion hatte der ehemalige schottische Premierminister Alex Salmond Putin noch als russischen Patrioten gepriesen. Jetzt hat er seine Talkshow auf dem russischen Propagandasender RT bis zur Wiederherstellung des Friedens ausgesetzt.

Der ehemalige französische Präsidentschaftskandidat François Fillon, der ehemalige österreichische Bundeskanzler Christian Kern und andere traten aus Protest von ihren Positionen in russischen Staatsunternehmen zurück. Nur der frühere deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder bleibt in seinem Amt bei Gazprom und sagt, es habe „Fehler auf beiden Seiten“ gegeben.

Und schließlich entließ der bulgarische Ministerpräsident Kiril Petkow seinen Verteidigungsminister, weil er sich weigerte, den Konflikt in der Ukraine als „Krieg“ zu definieren.

Aldrich Sachs

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