Tschernobyl: Wissenschaftler lösen das Rätsel, dass Wildschweine radioaktiver sind als andere Tiere

Es hat mit der Vorliebe der Schweine für einen bestimmten Trüffel und Atomwaffentests vor Unfällen zu tun.

Die Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 veränderte das Gesicht der Wälder in Mitteleuropa für immer.

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Die Kiefern starben und wurden durch die Strahlung rötlich, was dem Gebiet, in dem die Pflanzen sprossen, den neuen Namen „Roter Wald“ gab. Pflanzen drangen in die verlassenen Gebäude der Sperrzone ein und erzeugten unheimliche Bilder, die sich nun in die kollektive Psyche der Menschheit eingebrannt haben.

Die Populationen von Wildschweinen, Elchen und Hirschen nahmen in den Jahrzehnten nach der Katastrophe zu, ebenso wie seltenere Arten von Luchsen, Bisons und Wölfen.

Doch während wir alle mit den erschreckenden Bildern vertraut sind, die aus der Region in der Ukraine kamen, ist viel weniger über das Innenleben dieser radioaktiv verseuchten Welt bekannt.

Wissenschaftler wissen immer noch weitgehend nicht, wie es um den Gesundheitszustand der Tschernobyl-Tiere steht. Und es gibt vor allem ein Paradoxon, das sie seit Jahren beschäftigt: Warum sind Wildschweine immer noch so viel radioaktiver als andere Arten wie Hirsche?

Mithilfe präziserer Messungen konnten Forscher der TU Wien und der Leibniz Universität Hannover nun dieses „Rätsel“ lösen.

In einem neuen Artikel in der Fachzeitschrift „Environmental Science & Technology“ erklären die Forscher, dass dies mit Atomwaffentests vor der Katastrophe und mit der Vorliebe der Schweine für eine bestimmte Trüffel zusammenhängt.

Die Radioaktivität der Eber blieb überraschend hoch

Nach dem Unfall wurde den Menschen aufgrund der hohen radioaktiven Belastung vom Verzehr heimischer Pilze und Wildtierfleisch abgeraten.

Die Kontamination mit Hirschen und Rehen nahm im Laufe der Zeit wie vorhergesagt ab. Doch die im Wildschweinfleisch gemessenen Radioaktivitätswerte blieben überraschend hoch, berichtet SciDaily.

Bis heute weisen einige Proben von Wildschweinfleisch – aus Populationen, die sich über die Region ausgebreitet haben – immer noch Strahlungswerte auf, die deutlich über den gesetzlichen Grenzwerten liegen.

Cäsium-137 ist das wichtigste radioaktive Isotop, das in diesen Proben gemessen wird. Es hat eine Halbwertszeit von etwa 30 Jahren, was bedeutet, dass sich nach 30 Jahren die Hälfte des Materials von selbst zersetzt.

Die Strahlungsbelastung von Nahrungsmitteln nimmt schneller ab, da Cäsium weit von Tschernobyl entfernt ist, da es vom Regenwasser weggespült oder in den Boden verschleppt wurde und daher von Pflanzen und Tieren nicht mehr in den gleichen anfänglichen Mengen aufgenommen wird.

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Daher weisen die meisten Lebensmittelproben nach einer Halbwertszeit deutlich weniger als die Hälfte der ursprünglichen Konzentration auf.

Im Fleisch bayerischer Wildschweine blieben die Strahlungswerte jedoch nach fast 40 Jahren nahezu konstant – offenbar ein Verstoß gegen die Gesetze der Physik.

Warum haben Wildschweine eine hohe Radioaktivität?

Um dieses Rätsel zu lösen, machte sich ein Team um Professor Georg Steinhauser von der TU Wien daran, die Quelle und Menge der Radioaktivität bei Wildschweinen zu entschlüsseln.

„Das ist möglich, weil verschiedene Quellen radioaktiver Isotope unterschiedliche physikalische Fingerabdrücke haben“, erklärt Dr. Bin Feng, der seine Forschung am Institut für Anorganische Chemie der Leibniz Universität Hannover und am Atominstitut TRIGA Center der TU Wien durchführt.

„Sie setzen beispielsweise nicht nur Cäsium-137 frei, sondern auch Cäsium-135, ein Isotop des Cäsiums mit einer deutlich längeren Halbwertszeit.“

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Der Anteil dieser beiden Cäsiumarten variiert je nach nuklearem Ereignis. Ein Durchbruch bei der Messung von Cäsium-135 (viel schwerer zu bestimmen) verhalf den Forschern zu der Erkenntnis, dass die Wildschweine die Spuren einer anderen Zeit trugen: der Atomwaffentests der 1960er Jahre.

Die Ergebnisse zeigten, dass insgesamt rund 90 % des Cäsium-137 in Mitteleuropa aus Tschernobyl stammen, der Anteil in den Wildschweinproben jedoch deutlich geringer ist. Stattdessen stammt ein großer Teil des Cäsiums im Wildschweinfleisch aus Atomwaffentests – in manchen Proben bis zu 68 %.

Aber auch hier stellt sich die Frage: Warum?

Hirschtrüffel sind die Wurzel des Problems

Wie das alte Sprichwort sagt: Wir sind, was wir essen. Die Forscher brachten die Prävalenz der Strahlung aus der Zeit der Atomwaffen bei Wildschweinen mit ihrer Ernährung in Zusammenhang.

Tiere lieben besonders Hirschtrüffel – unter der Erde wachsende Pilze, die sie ausgraben. Und in diesen unterirdischen Pilzen reichert sich über einen langen Zeitraum radioaktives Cäsium an.

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„Cäsium wandert sehr langsam durch den Boden nach unten, manchmal nur etwa einen Millimeter pro Jahr“, sagte Georg Steinhauser gegenüber SciDaily.

Hirschtrüffel, die in einer Tiefe von 20 bis 40 Zentimetern vorkommen, absorbieren erst jetzt das in Tschernobyl freigesetzte Cäsium. Das Cäsium aus den „alten“ Atomwaffentests hingegen ist schon vor einiger Zeit dort angekommen.

Den Pilzen, die wie in Zimt gewickelte Marzipankugeln ähneln, wurde eine doppelte Dosis Cäsium verabreicht, das mit der Zeit ebenfalls abgebaut wird.

„Wenn wir alle diese Effekte zusammenzählen, lässt sich erklären, warum die Radioaktivität von Hirschtrüffeln – und damit auch von Schweinen – über die Jahre relativ konstant bleibt“, sagt Steinhauser.

„Unsere Arbeit zeigt, wie kompliziert die Zusammenhänge in natürlichen Ökosystemen sein können“, fügt er hinzu, „aber sie zeigt auch genau, dass die Antworten auf diese Rätsel gefunden werden können, wenn die Messungen genau genug sind.“

Unter Berücksichtigung dieser Faktoren wird die Kontamination von Wildschweinfleisch in den kommenden Jahren voraussichtlich nicht wesentlich zurückgehen.

Was für Landwirte eine schlechte Nachricht sein kann. Wildschweine werden in manchen Gebieten weniger gejagt, möglicherweise weil sie aufgrund ihrer Radioaktivität weniger attraktiv sind. Darüber hinaus verursacht ihre Überbevölkerung häufig Schäden in der Land- und Forstwirtschaft.

Clothilde Kopp

„Social-Media-Fan. Bier-Fan. Bacon-Junkie. Stürzt oft hin. Ärgerlich bescheidener Reise-Guru.“