Als Heinrich zur Sprecherin der Grünen Jugend gewählt wurde, tauchten ihre Tweets sofort wieder auf und lösten eine Debatte aus, die bis zum Rückzug aus der Öffentlichkeit eskalierte. Nach Angaben der Partei hatte sie Morddrohungen erhalten, obwohl sie sich zuvor von den Nachrichten distanziert und sich entschuldigt hat. Die einen verteidigten Heinrich mit dem Vorwurf der „Jugendsünden“, für andere waren seine alten Botschaften mehr als kindlicher Unsinn.
In einem Tweet vom 10.10.2021 kommentierte sie selbst: „Moral der Geschichte: keinen Scheiß ins Netz schreiben! In Zukunft kannst du meine Geschichte ruhig am Esstisch erzählen und in der Schule als Beispiel nehmen Abschreckung, denn mehr junge Menschen lernen verantwortungsbewusst mit dem Internet umzugehen.“
Ungeachtet der konkreten Schwere der Übertretungen wirft die aktuelle Diskussion Fragen auf, die weit über den Fall des jungen Politikers hinausgehen. Wie gehe ich mit „digitalen Kleinigkeiten der Jugend“ um? Welche Rolle spielen soziale Netzwerke? Und wie geht die Gesellschaft mit diesem Problem um?
Wenn das Internet zum Pranger wird
Die Diskussionskultur wandelt sich grundlegend, erklärt Christoph Neuberger vom Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Freien Universität Berlin: „Wir erleben eine Intensivierung, oft begleitet von Moralisierung und starker Personalisierung. Am Pranger zu dienen.“
Es ist seit langem bekannt, dass die Debattenkultur rauer und rücksichtsloser geworden ist. Allerdings, bekräftigt der wissenschaftliche Mitarbeiter des Instituts für Medienpädagogik in Forschung und Praxis (JFF) Georg Materna, der Fall Heinrich offenbare neue Dimensionen gerade im Hinblick auf junge Menschen.
Während soziale Netzwerke bis vor einiger Zeit vor allem als Orte gesehen wurden, an denen junge Menschen mit Gleichaltrigen interagierten und ihre eigene Identität schmiedeten, wird zunehmend das Potenzial von Netzwerken betont, auch als öffentliche politische Gremien verstanden zu werden.
„Das hat auch mit dem Aufkommen von Rechtspopulismus und Islamismus zu tun, die gezielt und geschickt soziale Netzwerke genutzt haben, um ihre unveröffentlichten Positionen in den Massenmedien an die Öffentlichkeit zu bringen“, analysiert Materna.
Privater Raum wird öffentlich
Wenn Netzwerke wie Twitter, Facebook und TikTok nicht nur der Unterhaltung dienen, gelten die alten Verhaltensregeln nicht mehr. Dann müssen Nutzer nicht nur auf peinliche Partyfotos achten, sondern auch auf ihre politischen Aussagen.
„Studien haben gezeigt, dass junge Menschen sich durchaus bewusst sind, dass sie mit ihren Posts zu politischen Themen in sozialen Medien einen Shitstorm auslösen und daher zurückhaltend agieren“, sagt Materna.
Eine Online-Konsultation des Österreichischen Instituts für Jugendforschung zum Beispiel ergab, dass in dieser Gruppe zum Schutz der eigenen Privatsphäre tendenziell auf zeitlich begrenzte Posts zurückgegriffen wird – wie es bei Instagram-Stories der Fall ist, die nach 24 Stunden keine länger sichtbar.
Aber auch das ist keine Garantie: „Wer will, kann alles dokumentieren. Einen vollständigen Schutz gibt es aus technischer Sicht nicht“, betont Neuberger. Umso wichtiger, gerade für junge Nutzer und Nutzer, eine Grundhaltung der Zurückhaltung verinnerlicht zu haben.
Mehr Eigenverantwortung registriert Georg Materna auch bei jungen Menschen, die auf Twitter und anderen Netzwerken aktiv sind. Andererseits erkennen auch die kommerziellen Betreiber der Plattformen nach und nach, dass es sich „immerhin um öffentliche politische Bühnen und nicht nur um neutrale soziale Netzwerke“ handelt.
Am wichtigsten sei jedoch, wie die Gesellschaft generell auf den Wandel der Öffentlichkeit, den Wandel der politischen Diskurse und die Zunahme des Angebots im Internet reagiert, betont der Medienpädagoge.
Schneller, härter, unerbittlicher
Schließlich waren auch die Vorgängergenerationen mit kompromittierenden Ereignissen der eigenen Jugend konfrontiert. 2001 veröffentlichte das Nachrichtenmagazin Stern Fotos von der Teilnahme des damaligen Außenministers Joschka Fischer an gewalttätigen Demonstrationen in den 1970er Jahren. Der Politiker äußerte Reue, und es gab keine politischen Konsequenzen.
Im Fall von Sarah-Lee Heinrich stammen die Tweets jedoch nicht von vor 30 Jahren, sondern von weniger als sieben. Und sie, mit 20, steht am Anfang ihrer Karriere. „Die Jagd nach Missbrauch im digitalen Bereich wird zunehmen“, prognostiziert Materna. „Dass gerade junge Politiker und Politiker davon betroffen sind, liegt wohl daran, dass sie schon sehr früh in den Netzen kursieren.“
Es liegt aber auch an den Massenmedien, den Journalisten, wie sie in Zukunft mit diesen öffentlich zugänglichen „Jugendsünden“ umgehen. Und dann ist es nicht nur, dass Jahre später jemand für seine minderjährigen Positionen jemandem in Rechnung gestellt wurde, sondern die Tatsache, dass einige dieser Shitstorms von ultrarechten Benutzern gestartet werden.
Das hat die Zeitschrift Die Zeit beispielsweise im Fall der Journalistin Nemi El-Hassan bewiesen. Als sie als Moderatorin beim WDR eingestellt werden sollte, wurden ihr problematische „Likes“ in den Sendern und die Teilnahme an einer antisemitischen Kundgebung vorgeworfen.
„Es ist eine Sache, bei Recherchen als Journalistin auf kompromittierende Posts zu stoßen. Eine andere aber ist es, gezielt von extremistischen Gruppen verbreitete Inhalte zu nutzen und so deren Reichweite noch weiter zu steigern“, warnt Materna.
Wie dem auch sei, der Wandel der Öffentlichkeit, die Jagd nach digitalen Zetteln und die rücksichtsloseste Debattenkultur erfordern eine frühere Vorbereitung junger Politiker und Politiker. Mehr als frühere Generationen müssen sie sich bewusst sein, dass ihre digitalen Fußabdrücke Konsequenzen haben können – Fußabdrücke, die sie hinterlassen haben, lange bevor sie sich eine politische Entwicklung vorstellen konnten.
Autor: Lisa Hänel
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