Eine kleine Gruppe, meist ältere Menschen, hängt ein gelbes Transparent an das geschützte Tor des Atomreaktors: „Atomkraftwerke abschalten“, heißt es.
Versammelt an diesem grauen Wintertag im Bundesland Schleswig-Holstein, im hohen Norden Deutschlands, kommen die Aktivisten meist aus der Region – obwohl einige aus Hamburg und anderswo angereist sind.
Friedenslieder singend und redend, scheint die Gruppe gut an die klirrende Kälte angepasst. Kein Wunder: Seit 35 Jahren treffen sie sich jeden 6. des Monats vor dem Werkstor.
Sie halten erneut Wache, um die Opfer nuklearer Katastrophen zu ehren und fordern die Abschaltung des Atomreaktors.
Diesmal gibt es jedoch einen Unterschied: Diese 425. Uhr wird die letzte sein.
An diesem Freitag (31.12.) wird das Kernkraftwerk Brokdorf im Rahmen des Programms zum Atomausstieg in Deutschland bis 2022 geschlossen.
Der Reaktor ist einer der umstrittensten in Deutschland und einer der produktivsten der Welt.
„Ich bin froh, dass es abgeschaltet wird“, sagte Hans-Günter Werner, Pfarrer und Mitbegründer der Aktivisten-Initiative. „Ich bin nicht traurig, aber ich bin ein bisschen nostalgisch, weil ich weiß, dass wir uns so schnell nicht wiedersehen werden“, fügte er hinzu.
„Aber meistens bin ich erleichtert, dass der Kernkraftwerksbetrieb endlich zu Ende geht“, fügte er hinzu.
Erster Atomreaktor nach Tschernobyl
Mitten in der wachsenden Anti-Atomkraft-Bewegung protestierten in den 1980er Jahren Hunderttausende gegen den Bau des Atomkraftwerks in Brokdorf.
Mehrmals kam es zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei – insbesondere nach dem Atomunfall von Tschernobyl 1986, der zu einer erhöhten Strahlenbelastung von Böden und Lebensmitteln in ganz Deutschland führte.
„Ich hatte kleine Kinder, die nicht im Sandkasten spielen konnten. Wir gerieten alle in Panik“, sagte Werner.
Der Ende 1986 eingeweihte Kernreaktor Brokdorf war der erste weltweit, der nach der Katastrophe von Tschernobyl in Betrieb ging.
Damals protestierten Werner und einige Verbündete friedlich und beschlossen, die Demonstrationen fortzusetzen, wobei sie versprachen, sich einmal im Monat zu treffen, bis Brokdorf geschlossen wird.
Für ihn halfen „Widerspruch zeigen“ und Protestieren der Gruppe auch, „die eigenen Ängste zu bekämpfen“.
Erhöhtes Krebsrisiko und eine Eisbahn
Ihre Befürchtungen waren nicht unberechtigt. Im Jahr 2008 zeigte eine Studie, dass Kinder, die in der Nähe eines deutschen Atomkraftwerks aufwachsen, einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, an Leukämie zu erkranken.
Trotzdem blieben die Mühlen inmitten dieser Gesundheitsgefahren geöffnet. Ein Grund könnten die jahrzehntelang hohen Einnahmen der Gemeinde Brokdorf durch eine Gewerbesteuer auf die Anlage sein. Lokalpolitiker wollten dieses Geld nicht aufgeben.
Das nur rund 1.000 Einwohner zählende Dorf konnte mit der AKW-Steuer eine 7-Millionen-Euro-Eisbahn finanzieren, und die Eintrittspreise für das öffentliche Schwimmbad mit 100-Meter-Wasserrutsche wurden äußerst niedrig gehalten.
„Es ist eine wirtschaftliche Tätigkeit in unserer Gemeinde und als Gemeinde unterstützen wir immer unsere lokalen Unternehmen“, sagte Brokdorfs Bürgermeisterin Elke Göttsche.
Sie zog es vor, die Anlage länger in Betrieb zu halten, da dies den Umstieg auf erneuerbare Energien erleichtert hätte. Doch jetzt ist die Goldgrube für die Finanzierung von Atomreaktoren vorbei.
Bau neuer Anlagen
Während Deutschland bis Ende 2022 alle verbliebenen Atomkraftwerke abschafft, sind andere Länder wie Frankreich, Großbritannien, die USA, Indien, Russland und China weiterhin auf diese Energieform angewiesen.
Weltweit sind noch etwa 440 Kernreaktoren in Betrieb, die etwa 10 % der Weltenergie liefern. In diesem Jahr befanden sich etwa 50 Kernreaktoren im Bau, davon 18 in China.
Weitere 300 Kernkraftwerke sind derzeit in Planung. Inzwischen wirbt die Lobby für Atomkraft als vermeintlich saubere und vor allem klimafreundliche Alternative.
Der französische Präsident Emanuel Macron hat in diesem Jahr sogar angekündigt, dass Frankreich, um bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen, erstmals seit Jahrzehnten die Pläne zum Bau neuer, kleinerer Atomkraftwerke wieder aufnimmt.
Die Emissionen der Kernenergie sind deutlich geringer als die von Kohle, Öl und Erdgas. Im Vergleich zu Wind- und Solarenergie kostet die Technologie jedoch viel mehr und der Bau von Atomkraftwerken dauert viel länger.
Militärische Motive
Dass Staaten immer noch Atomkraft einführen, hat laut Andrew Stirling, Professor für Wissenschafts- und Technologiepolitik an der University of Sussex, noch einen weiteren Grund.
„Weltweit haben Länder, die sich am stärksten der zivilen Nutzung der Kernenergie verschrieben haben, entweder Atomwaffen oder sind sehr daran interessiert, sie zu bekommen“, sagte er.
Laut Stirling ist die zivile Nutzung der Kernenergie oft notwendig, um Atomwaffenprogramme durchzuführen, was Frankreich und die USA einräumen.
Ohne die Ingenieure und Experten der kommerziellen Atomkraftindustrie wäre es beispielsweise unmöglich, Atom-U-Boote zu bauen, erklärte Stirling.
„Die US-Berichte sind absolut eindeutig. Selbst wenn die Kosten für Atomkraft verdoppelt würden, wäre es immer noch sinnvoll, Reaktoren zu bauen, weil sie so ihre militärischen Aktivitäten aufrechterhalten können“, sagte er.
letzte Uhr
Bei Kaffee, Kuchen und Kürbissuppe erinnern sich Brokdorf-Aktivisten an 35 Jahre Proteste. Sie schauen sich Fotos an, darunter auch Bilder aus privaten Alben.
Obwohl Brokdorf am Freitag seinen Betrieb eingestellt hat, wird die Anlage noch über Jahrzehnte als Zwischenlager für Atommüll dienen. Es gibt noch kein Endlager für radioaktive Abfälle.
„Unser Engagement ist also noch nicht vorbei“, sagte ein Aktivist. Kurz darauf fängt jemand an, Gitarre zu spielen.
Demonstranten verlassen singend das Werk Brokdorf. Erstmals seit 35 Jahren gehen auch sie als Gewinner hervor.
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