Kurische Nehrung: ein vergessener europäischer Exot

Ein hundert Kilometer langer Halbmond aus Sand, der sich von Litauen bis zum Meer erstreckt, so sieht die Kurische Nehrung aus. Wer dort den kalten Wind in Kauf nimmt, wird mit einer vergessenen Ostseeidylle belohnt. Strände ohne Touristen, aber mit Sanddünen, freilaufenden Elchen, dem Märchenberg der Hexen oder einem Wald, der tanzen kann.

Stellen Sie sich ein großes Sensenblatt vor, das von Wasser umgeben ist. Stellen Sie sich vor, es besteht aus Sand. Und stellen Sie sich darauf vor. Du liegst an einem vollkommen glatten Strand, weit und breit niemand. Gleich hinter dir liegt ein Piniengürtel, von dem aus dir ein Elch schüchtern zuspioniert. Diese Naturoase existiert wirklich und wurde im Jahr 2000 unter dem Namen Kurská Kosa in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen.

Das Werk einer verspielten Göttin

Es ist im Wesentlichen eine hundert Kilometer lange natürliche Brücke, die das seichte Kurische Haff von der Ostsee trennte. Einer alten Legende nach wurde das Vorgebirge von der göttlichen Riesin Neriga geschaffen, während sie mit dem Sand an der Küste spielte. Deshalb wird die Kurische Nehrung manchmal Neriga genannt.

Die besagte Göttin erhob eine sehr schmale Halbinsel. Er ist weniger als vier Kilometer breit, an den engsten Stellen sogar nur 400 Meter. Dennoch ist es seit dem Mittelalter aktiv bewohnt. Der Orden der Deutschen Ritter baute hier mehrere Festungen. Später blühte hier die ethnische Gruppe der Kuršininkai auf, die in den Küstendörfern mit Fischfang, Holzfällerei und Kunsthandwerk beschäftigt waren. In der Neuzeit lebten hier mehr Deutsche, weil die Nehrung zu Ostpreußen gehörte. Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das gesamte Gebiet von der Sowjetunion besetzt, und nach ihrem Zusammenbruch 1991 wurde der Süden der Halbinsel von Russland gehalten. Der nördliche Teil, wo sich die meisten Touristenziele befinden, fiel an Litauen.

Dünen bewegen sich auch mit Kiefern

Heute ist das Vorgebirge glücklicherweise ein etwas vergessenes Touristenziel, obwohl es sowohl Strandgänger als auch Liebhaber unberührter wilder Natur zufrieden stellen wird. So ziehen jährlich bis zu 20 Millionen Zugvögel hierher. Hauptsächlich Kormorane, Reiher und Störche. Mit etwas Glück können Sie auch europäische Elche sehen. Dies ist sicherlich wahrscheinlicher als auf dem Festland, da sich hier auf einer schmalen Halbinsel die scheuen hirschähnlichen Tiere in einem kleinen Revier bewegen.

Eine typische Landschaft der Kurischen Nehrung, es ist eine lange Sanddüne, auf der der meist Kiefernwald mit der Hitze mithalten muss. Er wird Tanzender Wald genannt, weil die Kiefernstämme zu seltsamen Pirouetten und unnatürlichen Neigungen verdreht sind. Manche Bäume sind so verbogen, dass sie aussehen, als wären sie betrunken. Der genaue Grund für dieses Phänomen ist ungewiss. Laut einigen Biologen werden Bäume durch die Raupe der Seggenmotte deformiert, die die Knospen von Kiefern frisst. Aber die wahrscheinlichere Theorie ist, dass die Stämme durch ständig wechselnden Sand gebogen werden. Auch der starke Wind, der sich ständig an den Wald lehnt, wird seinen Tribut fordern.

Als die Dorfbewohner früher in großen Mengen Holz geerntet haben, haben sie es schließlich selbst bezahlt. Wenn der Sand nicht durch Baumwurzeln verfestigt wurde, verschoben sich die Dünen oft. Das ehemalige Dorf Karvaičiai beispielsweise musste Ende des 18. Jahrhunderts von den Dorfbewohnern verlassen werden und liegt heute unter einer Düne begraben.

Derzeit ist die gesamte Bergkette geschützt und der Holzeinschlag ist verboten. Aber die Natur trat zur Abwechslung ein. Hier brach vorletztes Jahr ein riesiges Feuer aus, das 130 Hektar Wald in eine Parade verkohlter Baumstümpfe verwandelte. In den Nachrichtenaufnahmen sah das Feuer sehr seltsam aus, mit einer hohen Feuersäule, die tatsächlich mitten im Meer stand. Solch ein symbolischer Kampf zwischen Wasser und Feuer. Es dauerte eine ganze Woche.

Sie haben den Strand ganz für sich alleine

Durch den gesamten litauischen Teil der Kurischen Nehrung schlängelt sich ein Radweg, dank dem Sie die lokale Natur mit dem Fahrrad, auf Schlittschuhen oder zu Fuß genießen können. Sie beginnt im Dorf Smiltyne an der Nordspitze der Halbinsel, wo das Schifffahrtsmuseum auf Sie wartet. Etwa auf halber Strecke des Radweges stoßen Sie auf das Dorf Juodkrante, wo Sie romantische Holzhäuser sehen können. Etwas weiter entfernt steht der waldbedeckte Hexenberg. Während der Name des Berges für einen Fünfzig-Meter-Gipfel recht großzügig ist, findet man hier wirklich Hexen. Entlang des Fußwegs sind im traditionellen baltischen Stil Statuen von alten Frauen, Drachen oder der Göttin Neriga in Holz geschnitzt.

Die schönste Sanddüne findet man nur am südlichen Ende des Radweges in der Nähe des Dorfes Nida. Es ist die 50 Meter hohe Pardinis-Düne. Wenn Sie von hier aus weiter nach Süden schauen, sehen Sie die Grenze der Europäischen Union. Außerdem gehört die Nehrung bereits zu Russland, nämlich zur Region Kaliningrad. Dies ist eine russische Enklave, die durch das Territorium Litauens vom Hauptteil der Russischen Föderation abgeschnitten ist.

Auf dem Radweg können Sie überall am Meer an einem Sandstrand anhalten. Da es sich um ein bereits relativ weit nördlich gelegenes Gebiet handelt, wandert die Sonne im Sommer recht lange über den Himmel. Zum Beispiel geht sie im Juli um fünf Uhr morgens auf und erst um zehn Uhr abends unter. Sie haben perfekte Ruhe und Privatsphäre am Meer. Mit der schrecklichen Erinnerung an die Touristenmassen an der Küste Kroatiens oder Italiens verzeiht man der Kurischen Nehrung dankbar auch nur ein wenig des kalten Windes, der hier fast nie nachlässt.

Nacktheit auch für Schüchterne
Viele deutsche Einwohner lebten lange Zeit auf der Kurischen Nehrung, doch am Ende des Zweiten Weltkriegs flohen sie oder wurden von der sowjetischen Armee vertrieben. Heute ist die gesamte Nehrung wieder das bevorzugte Reiseziel deutscher Familien mit Kindern, die hier in traumhafter Ruhe direkt in gemieteten Strandhäusern ihren Urlaub verbringen. Außerdem kommt es den Deutschen entgegen, dass sie hier ungestört ihrer liebsten FKK nachgehen können. Schließlich kann sich hier auch ein ganz Schüchterner im Nacktschwimmen versuchen, denn die ganze Nehrung ist eigentlich ein einziger hundert Kilometer langer Strand, sodass es kein Problem ist, ganz alleine ein ruhiges Plätzchen zu finden. Und auch die kältere Ostsee, die sie von zu Hause gewohnt sind, macht den Deutschen nichts aus.

Katrin Taube

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