Kann Deutschland die Pandemie nur mit Zwang überwinden? :: Blog auf Heute








Die Bundeskanzlerin und die Präsidenten trafen sich gestern planmäßig Länder, die Bundesländer, unsere Regionen. Sie werden es am 24. Januar wiederholen. Bei diesem Treffen werden Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie beschlossen. Was sich im Moment stabilisiert zu haben scheint: Die Zahl der täglichen Infektionen gehört zu den niedrigsten in Europa, aber in Berlin herrscht keine Ruhe: Omicron breitet sich aus und bald wird die Situation ähnlich wie in anderen europäischen Ländern sein. Es ist nur eine Frage der Zeit.


Die in der von der neuen Bundesregierung eingesetzten Kommission versammelten Wissenschaftler versuchen zu beruhigen: Die neue Variante breitet sich zwar mit extremer Geschwindigkeit aus, scheint aber noch weniger gefährlich zu sein. Das heißt, wenige Menschen müssen ins Krankenhaus, wenige brauchen Intensivpflege, wenige Todesfälle. Die Aufmerksamkeit muss laut Experten jedoch hoch bleiben.


Bei dem Treffen wurde diskutiert, einige Präsidenten beklagten, dass Regierungswissenschaftler keine konkreten Maßnahmen vorgeschlagen hätten. Sie erwarteten mehr Klarheit und besser definierte Regeln. So verspricht Bundeskanzler Scholz über eine Verschärfung der bisher beschlossenen Regeln hinaus noch einmal eine schnelle Impfpflicht.


Das ist der wesentliche Unterschied zur Vorgängerregierung: eine direkter gewordene Kommunikation mit Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der novax mit gesenktem Kopf attackiert, und die Wahl, fast alles auf die Impfpflicht zu setzen, die jetzt ausfällt von weiten Teilen der Politik als Lösung des Pandemieproblems präsentiert.


Allerdings bestehen Zweifel an der Sinnhaftigkeit und Angemessenheit dieser Maßnahme. Zunächst einmal für die Zeit. Omicron breitet sich schnell aus, und zusätzlich zu dem mit der Saisonalität verbundenen Höhepunkt wird erwartet, dass die Zahl der Fälle bereits in den nächsten Wochen zunehmen wird. Tatsächlich nehmen die Fälle bereits zu. Selbst wenn der Bundestag zügig arbeiten und die Mehrheit durchhalten würde (was nichts als ausgemachte Sache ist), könnte der Text bis Ende März verabschiedet werden. Derzeit gibt es noch keinen Entwurf und es ist überhaupt nicht klar, wie die Verpflichtung umgesetzt werden könnte. Welche Auswirkungen könnte es also auf die Verbreitung der Variante haben?


Der Deutsche Ethikrat hat im vergangenen Monat eine Stellungnahme zur Impfpflicht veröffentlicht. Durch Splitting: Vier Experten stimmten gegen das Gutachten, sieben für eine auf bestimmte Kategorien beschränkte Verpflichtung, dreizehn für eine generelle Verpflichtung. Aber das Dokument sagt sehr wenig über die Gründe für die Auswahl aus, weil der Rat selbst vorsichtshalber entschieden hat, sie nicht zu veröffentlichen, wodurch eine tiefere Bewertung der Frage verhindert wird und deutlich wird, dass die Frage unter den Experten selbst alles andere als gelöst ist.


Es ist daher nicht klar, wie sich das Parlament orientieren soll. Worin sollte die Verpflichtung eigentlich bestehen? In den ersten beiden Dosen oder gar in der Auffrischungsimpfung? Oder besser auch die dritte und wahrscheinlich auch die vierte Dosis verstehen? Denn es zeige sich jetzt – die Bundesregierung selbst erinnert daran -, dass die immunologische Wirksamkeit des Impfstoffs nach einigen Monaten tendenziell abnimmt. Und wenn außerdem durch die Impfung Krankenhauseinweisungen vermieden werden, weil geimpfte Menschen in der Regel einen viel leichteren Krankheitsverlauf haben, ist nicht sicher, dass die Fallzahlen zurückgehen, im Gegenteil. Aber wären nach Einführung der Verpflichtung neue Eindämmungsmaßnahmen verfassungsrechtlich akzeptabel? Besteht nicht die Gefahr, dass das Bundesverfassungsgericht eingreifen könnte, um die Verpflichtung oder die Eindämmung einzuschränken, weil die Gültigkeit beider Maßnahmen unverhältnismäßig wäre? Und nochmal: Welche Impfungen werden für die Pflicht erlaubt sein? Bleibt das Wahlrecht beim Impfstoff erhalten? Welche Personengruppen sollen ausgeschlossen werden?




Wenn man den Bundeskanzler immer wieder zu hören bekommt, dass er sich für die Einführung der Impfpflicht ausspricht, hat man den Eindruck, dass das Bundeskanzleramt nicht die Absicht hat, die Problemperspektive im Geringsten zu verändern. Vor allem auf gesundheitlicher Ebene: Nach der Pandemie muss die Gesundheitsversorgung komplett neu gedacht werden, sicherlich in ihrer digitalen Dimension – hier hat Deutschland enorme Lücken aufgezeigt – aber auch als universelles Recht. Kritikpunkte zeigten sich in der Personalführung mit sehr niedrigen Gehältern, was auch zum Abbau von materiell vorhandenen, aber mangels Personal nicht nutzbaren Intensivbetten führte. Das ist nicht nur eine Zahl unter vielen der Pandemie, sondern stellt die rote Linie dar, die seit 2020 nicht überschritten werden darf und die die bisherigen Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens legitimiert. Und von alledem ist in den Argumenten des Bundeskanzlers wie der Regierung keine Spur. Von der neuen Regierung war vielleicht mehr Mut zu erwarten.








Aldrich Sachs

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