Angela Merkel kam 2005 an die Macht, weil die Sozialdemokratische Partei (SPD) sich weigerte, ein Bündnis mit der extremen Linken einzugehen, die ihre ideologischen Wurzeln in der untergegangenen Deutschen Demokratischen Republik hatte. Sonst hätte die SPD die Führung der neuen Regierung übernommen und Merkels Schicksal wäre in den Hintergrund gerückt. Die SPD, die derselben politischen Familie wie die Partei von António Costa angehört, hatte in der Legislatur im September dieses Jahres 34 % der Stimmen erhalten, einen Prozentpunkt weniger als die CDU/CSU-Fraktion, die Merkel als Kandidatin hatte. Nach dreiwöchigen Verhandlungen erzielten Mitte-Rechts und Sozialisten eine Regierungsvereinbarung. Der Bundestag stimmte daraufhin der Koalition beider zu. Sie repräsentierten etwa 70 % der Wählerschaft.
Merkel übernahm an der Spitze der Meistgewählten die Regierungsspitze. Am Ende führte er Deutschland 16 Jahre lang, immer in Koalition. In seiner letzten Amtszeit hatte er den Vorsitzenden der Sozialisten, Olaf Scholz, als Vizekanzler. Am 8. Dezember wurde Scholz nach den Wahlen im vergangenen September neuer Bundeskanzler. Auch er regiert an der Spitze einer Koalition, die sich aus den Grünen auf der linken Seite und den Liberalen (FDP) auf der rechten Seite zusammensetzt. Zwei Monate lang wurde das gemeinsame Programm Schritt für Schritt verhandelt, immer mit dem Ziel, einen Kompromiss zu finden. Während des Prozesses wurde klar, dass man mit allen verhandeln kann, außer mit Extremisten, Fremdenfeinden und Libertiziden.
Die deutsche politische Kultur basiert auf der Suche nach Plattformen der Verständigung und der Stabilität des Systems. So ist es seit 1949, als Konrad Adenauer im damaligen Westdeutschland die erste demokratische Nachkriegsregierung auf Basis eines Dreiparteienabkommens leitete. Kurzum, es geht darum, für möglichst viele Wählerinnen und Wähler ein berechenbares, ausgewogenes und repräsentatives Vorgehen beizubehalten. Ein großer Teil des wirtschaftlichen Wachstums, der Modernisierung und des sozialen Wohlstands, die Deutschland heute ausmachen, beruht auf der Stabilität und Mäßigung der Machthaber.
Annalena Baerbock, Vorsitzende der Grünen und jetzige Außenministerin, sagte, die neue Regierung „spiegele die Vielfalt wider“, die es im Land gebe. Diese Aussage mag übertrieben erscheinen. Aber die Wahrheit ist, dass es auf Führungsebene eine Bereitschaft gibt, die Interessen verschiedener Teile der Gesellschaft einzubeziehen und auszugleichen. Dort, wie auch in anderen politischen Horizonten, gibt es keine Vorstellung vom „Hauptfeind“, was nicht verhindert, dass Extremisten aller Art von den Gesprächen ausgeschlossen werden. Jeder, der Parteiaktion in Begriffen des „Feindes“ denkt, lebt, vielleicht ohne es zu wissen, in einem totalitären ideologischen Rahmen, in dem der politische Kampf als Vorzimmer zur Zerschlagung von Gegnern oder als eine Art Bürgerkrieg ohne Gewehrfeuer angesehen wird. In einer Demokratie gibt es keine Feinde unter all jenen, die die Verfassung respektieren und verstehen, dass der Wohlstand jedes Bürgers grundlegend für den Fortschritt und die Sicherheit aller ist.
Das deutsche Beispiel ist nicht einzigartig in der EU. Auch nebenan in den Niederlanden sind vielfältige Regierungskoalitionen die Regel. Wie in Belgien, Italien, Irland, Finnland, Luxemburg und so weiter. Ganz zu schweigen von dem merkwürdigen Fall Dänemarks, das eine Regierung hat, die ausschließlich aus Sozialdemokraten (Sozialisten) besteht, aber von einer stabilen parlamentarischen Unterstützung durch drei linke Parteien profitiert.
Fortgeschrittene Demokratien basieren auf der Suche nach einem großen Konsens. Halb plus eins könnte reichen, um eine Mehrheit im Parlament zu haben und die Regierungsmaschinerie in Gang zu bringen. Es ist jedoch eine minimalistische und nur formale Konzeption von Demokratie. Die digitale Revolution, der globale Wettbewerb, enorme Energie-, Sicherheits- und gesellschaftliche Herausforderungen, all dies und vieles mehr kann nur mit einem breiten gemeinsamen Reform-, Modernisierungs-, Vereinfachungs- und Schutzwillen in der notwendigen Tiefe bearbeitet werden. Wir stehen vor sehr komplexen Fragestellungen.
Internationaler Sicherheitsberater. Ehemaliger Untergeneralsekretär der Vereinten Nationen
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